NIKOLAI LJESSKOW
DER VERSIEGELTE ENGEL

NIKOLAI
LJESSKOW

DER
VERSIEGELTE ENGEL
UND ANDERE GESCHICHTEN

ÜBERTRAGEN VON
ALEXANDER ELIASBERG

1922
MUSARION VERLAG MÜNCHEN

Alle Rechte vorbehalten
Druck von Dietsch & Brückner in Weimar

INHALTSVERZEICHNIS

Der versiegelte Engel7
Die Epopöe von Wischnewskij und seiner Sippe107
Der Toupetkünstler169
Anläßlich der Kreutzersonate205

DER VERSIEGELTE ENGEL

ERSTES KAPITEL

Es war um die Weihnachtszeit, am Vorabend des Wassilijtages.Das Wetter ließ sich sehr ungnädig an.Einer der grausamen Landstürme, welche die Winter inden Wolgasteppen berüchtigt machen, hatte eine MengeLeute in den abgelegenen Gasthof getrieben, ein Bauernhausinmitten der flachen, unabsehbaren Steppe. Dorthatten sich auf einem Haufen Adelige, Kaufleute, Bauernzusammengefunden, Russen, Mordwinen und Tschuwaschen.Auf Rang und Würden konnte man in einemsolchen Nachtquartier keine Rücksicht nehmen: wohinman sich wendet, alles ist gedrängt voll, die einen trocknensich, die anderen wärmen sich, die dritten suchen einwenn auch noch so kleines Plätzchen, auf dem sie bleibenkönnen. In der dunklen, niederen, mit Menschen überfülltenStube herrscht eine schwere Schwüle und der dichteDampf der nassen Kleider. Nirgends ist ein unbesetzterFleck zu sehen: auf den Pritschen, dem Ofen, den Bänken,und selbst auf dem schmutzigen Erdboden, überall liegenMenschen. Der Hauswirt, ein mürrisch blickender Bauer,zeigt weder über seine Gäste, noch über den Verdienstirgendwelche Freude. Zornig schlägt er das Tor hinterden zwei Kaufleuten zu, die als letzte auf Schlitten in denHof gekommen sind. Er schließt die Pforte ab, hängt denSchlüssel unter den Heiligenschrank und erklärt entschieden:

»Nun kann kommen wer will, und wenn er mit demKopf ans Tor schlägt, ich mach nicht auf!«

Aber kaum hatte er es gesagt, seinen weiten Schafspelzabgelegt, sich mit breiter Gebärde auf Raskolniki-Artbekreuzigt und sich fertig gemacht, auf den heißen Ofenzu klettern, als jemand zaghaft an die Scheibe klopfte.

»Wer ist dort?« rief der Hauswirt mit lauter, ärgerlicherStimme.

»Wir!« antwortete es dumpf hinter dem Fenster.

»Nun, was wollt ihr noch?«

»Laß uns herein, um Christi willen, wir haben unsverirrt, sind ganz erstarrt.«

»Seid ihr viele?«

»Nicht viele, nicht viele, achtzehn im ganzen, achtzehn,«sagte stammelnd und mit den Zähnen klapperndein anscheinend ganz erfrorener Mensch hinter derScheibe.

»Ich kann euch nicht einla

...

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