Geschichten und Betrachtungen
von
Francis Jammes
Kurt Wolff Verlag / Leipzig
Bücherei „Der jüngste Tag“, Bd. 58/59
Gedruckt bei E. Haberland, Leipzig
Berechtigte Übertragung von E. A. Rheinhardt
Der Dichter sah seine Freunde an, die Anverwandten,den Priester, den Arzt und den kleinenHund, alle, die in seinem Zimmer versammeltwaren — und starb. Auf ein Stück Papier wurdesein Name geschrieben und sein Alter: er war achtzehnJahre alt.
Da ihn die Freunde und Anverwandten auf dieStirne küßten, fühlten sie, daß er kalt gewordenwar. Er aber empfand ihre Lippen nicht mehr,denn er war im Himmel. Und nun fragte er sichauch nicht mehr, wie er es auf Erden immergetan hatte, wie denn dieser Himmel eigentlichsei. Da er darinnen war, verlangte es ihn nachnichts anderem mehr. Seine Eltern, die vielleicht(wer weiß das?) vor ihm gestorben waren, kamenihm entgegen. Sie weinten nicht, und auch erweinte nicht, denn sie hatten, alle drei, einanderniemals verlassen.
Seine Mutter sagte ihm: „Geh, kühl den Weinein! Wir werden dann gleich in der Laube desParadiesgartens mit dem lieben Gott zum Mittagessengehn.“
Sein Vater sagte ihm: „Geh dort unten Obstpflücken! Hier gibt es keine giftigen Früchte.Und die Bäume reichen dir gern ihre Früchte.Ihre Blätter und Zweige leiden nicht unter deinemPflücken, denn sie sind unerschöpflich.“
Der Dichter wurde von Freude erfüllt, da ernun wieder seinen Eltern gehorchen konnte. Alser aus dem Obstgarten zurückkam und die Weinkrügein das Wasser gestellt hatte, erblickte erseine alte Hündin, die vor ihm gestorben war.Zärtlich schweifwedelnd lief sie herbei und leckteihm die Hände und er streichelte sie. Und mitihr waren alle Tiere da, die ihm auf Erden dieliebsten gewesen waren: ein kleiner rothaarigerKater, zwei junge graue Kater, zwei schneeweißeKätzchen, ein Gimpel und zwei Goldfische.
Er sah den Tisch gedeckt und an ihm sitzendden lieben Gott, den Vater und die Mutter undneben ihnen ein schönes junges Mädchen, das erunten auf der Erde liebgehabt hatte, und das ihm inden Himmel gefolgt war, obwohl es nicht gestorbenwar. Und nun erkannte er mit einem Male, daßder Paradiesgarten der Garten seines irdischenVaterhauses sei, in dem wie ehdem und immerdie Lilien und Granatbäume blühten und der Kohlwuchs.
Der liebe Gott hatte seinen Stock und seinenHut auf den Boden gelegt. Er war angetan wiedie Armen der großen Landstraßen, die einenWecken Brotes in ihrem Quersacke tragen unddie die Obrigkeit an den Eingängen der Städte anhaltenund ins Gefängnis werfen läßt, weil sie nichtshaben, was für sie bürgt. Seine Haare und sein Bartwaren weiß wie das große Licht des Tages undseine Augen tief und dunkel wie die Nacht.
Er sprach — und seine Stimme war sanft —:„Die Engel sollen kommen und uns bedienen,denn es ist ihr Glück, zu dienen.“ Da kamen auchschon auf allen Wegen des himmlischen Gartensdie Heerscharen herangeeilt. Und das waren dietreuen Dienstboten, die im irdischen Leben denDichter und seine Familie geliebt hatten. Da kamnun der alte Johann, der ertrunken war, als ereinen kleinen Jungen retten wollte, die alte Marie,die an einem Sonnenstiche gestorben war, da warder humpelnde Peter, Johanna war da und nocheine andere Johanna. Und der Di