Die große Stille

Die große Stille

Roman

von

Heinrich Lilienfein.

9.-11. Auflage

Stuttgart und Berlin 1919
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

Alle Rechte,
insbesondere das Übersetzungsrecht vorbehalten

Für die Vereinigten Staaten von Amerika:
Copyright, 1912, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin

Dem Andenken meiner Hanna

1

Da klingelte es schon wieder.

Käthe hatte ihren Posten auf der obersten Treppenstufegleich gar nicht verlassen. Elli stürmte mit lachenderNeugier aus der Stube und bog sich so weit über dasGeländer, daß die ältere, bedächtigere Schwester sie leiseschalt und zupfte, einmal, weil es leichtsinnig war undman gesehen werden konnte, dann aber, weil sie selbst,obwohl die größere von beiden, so nicht auf ihre Kostenkam. Und der neue Ankömmling für Papas Sprechstundemußte doch ganz genau gemustert werden. Daswar so Brauch, so oft ein neues Semester begann unddie Hörer einer nach dem andern anrückten, um sichden Namen des Geheimrats ins Kollegbuch schreiben zulassen.

Marga war allein in dem gemütlichen Zimmer zurückgeblieben,das ihr und Ellis Mädchenreich war. Aber auchin ihren Fingern ruhte für einen Augenblick die feineKnüpfarbeit. Mit vorgebeugtem Kopf lauschte sie hinausnach dem Treppenhaus. In der erwartungsvollenStille war jedes Geräusch zu hören.

Im Erdgeschoß wurden Schritte laut. Es war Therese,die mit Brummen an die Glastür schlürfte und öffnete.Elli polterte in der Spannung einige Stufen hinunter.Ein zürnendes „Bst!” von Käthe wies sie zurecht.

[S. 8]

Über Margas Gesicht huschte ein Lächeln. Ihre Blickesuchten die Tür. Sie ließ sich von der Spannung anstecken,als könnten die lichtlosen blauen Augen das unerbittlicheDunkel durchdringen, das sie inmitten der sonnigen Stubeeinhüllte.

Jetzt mußte der Ankömmling sichtbar sein.

Mit einem unverhohlenen „Oh!” der Enttäuschungfuhr Elli zurück und glitt von der Treppe ins Zimmer.„Nu mach' ich nicht mehr mit!” ließ sie sich halb traurig,halb zornig vernehmen, während sie sich in dem rotenPlüschsofa, Margas Korbsessel gegenüber, schmollendzurückwarf.

„Wer war's denn?” forschte die Blinde.

„Ach was! Nicht der Mühe wert! Einfach lächerlich!”lautete die unklare Antwort, die ein tiefer Seufzer begleitete.

„Trabner, der alte Oberlehrer,” erklärte Käthe, diejetzt, gleichfalls enttäuscht, zurückkam.

„Ach der!” nickte Marga und nahm die auf den Knienliegende Handarbeit wieder auf.

„Der Flanellstorch!” ergänzte Elli, die ihren Unwillenan irgendwem auslassen mußte. „Mit der Glatze und derStahlbrille, den Gummimanschetten und dem famosenTrikot-Stehumlegekragen. Ich glaube, er hört Papa seitfünfzig Jahren, der — der —”

„Ein sehr netter, vernünftiger Mensch,” meinte Käthestrafend. „Papa schätzt ihn sehr.” Als Älteste hielt siees stets für ihre Pflicht, gerecht zu sein und Ellis vorlautenUrteilen die Spitze abzubrechen.

Aber Elli war heute gar nicht in der Laune, sich schulmeisternzu lassen. „Sieh mal an!” Sie bog ihren lichtblonden[S. 9]Lockenkopf zur Seite. „Du schwärmst wohl garfür den guten Flanellstorch?”

„Das ist ehrlich dumm, Kleinchen! Ich kann nur nichtleiden

...

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