Anmerkungen zur Transkription:

Der Text stammt aus: Neue Revue. Halbmonatschrift fürdas öffentliche Leben 1 (1907/08). S. 716–724.

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurdenübernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurdenkorrigiert. Änderungen sind im Text gekennzeichnet,der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.

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Der Dichter und das Phantasieren.

Von
Prof. Dr. Sigm. Freud (Wien).

Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese merkwürdigePersönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt – etwa im Sinne der Frage, die jenerKardinal an den Ariosto richtete –, und wie er es zustande bringt, uns mit ihnenso zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht717einmal für fähig gehalten hätten. Unser Interesse hierfür wird nur gesteigert durchden Umstand, daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen, uns keine oder keinebefriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht gestört durch unser Wissen, daß diebeste Einsicht in die Bedingungen der dichterischen Stoffwahl und in das Wesender poetischen Gestaltungskunst nichts dazu beitragen würde, uns selbst zu Dichternzu machen.

Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsergleichen eine dem Dichten irgendwieverwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung derselben ließe unshoffen, eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. Undwirklich, dafür ist Aussicht vorhanden; – die Dichter selbst lieben es ja, den Abstandzwischen ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern;sie versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke; und daßder letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde.

Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kindesuchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleichtdürfen wir sagen: jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indemes sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Weltin eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht, zu meinen,es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteile, es nimmt sein Spiel sehr ernst,es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst,sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotzaller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte undVerhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. Nichtsanderes als diese Anlehnung unterscheidet das »Spielen« des Kindes noch vom»Phantasieren«.

Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft einePhantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet,während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat dieseVerwandtschaft von Kinderspiel und poetischem Schaffen festgehalten, indem siesolche Veranstaltungen des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objektebedürfen, welche der Darstellung fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel,und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus der Unwirklichkeitder dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für diekünstlerische Technik, denn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kanndies doch im Spiel der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungenkönnen für den Hörer und Zuschauer des Dichters

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