Anmerkungen zur Transkription:

Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung derPsychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1917). S. 49–57.

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurdenübernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurdenkorrigiert. Änderungen sind im Text gekennzeichnet,der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.

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Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung undWahrheit«.

Von SIGM. FREUD (Wien).

»Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühestenZeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall,dasjenige, was wir von anderen gehört, mit dem zu verwechseln,was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.«Diese Bemerkung macht Goethe auf einem der ersten Blätterder Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren aufzuzeichnenbegann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen überseine »am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlag zwölf«erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne war ihm günstigund mag wohl Ursache seiner Erhaltung gewesen sein, denn erkam »für todt« auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungenbrachte man es dahin, daß er das Licht erblickte. Nach dieser Bemerkungfolgt eine kurze Schilderung des Hauses und der Räumlichkeit,in welcher sich die Kinder – er und seine jüngere Schwester– am liebsten aufhielten. Dann aber erzählt Goethe eigentlich nureine einzige Begebenheit, die man in die »früheste Zeit der Kindheit«(in die Jahre bis vier?) versetzen kann, und an welche er eineeigene Erinnerung bewahrt zu haben scheint.

Der Bericht hierüber lautet: »und mich gewannen drei gegenüberwohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne desverstorbenen Schultheißen, gar lieb, und beschäftigten und necktensich mit mir auf mancherlei Weise.«

»Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denenmich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ich führenur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt gewesenund man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mitsolchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichenGeschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An50einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ichim Geräms (der erwähnten gegen die Straße gerichteten Örtlichkeit)mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen und da weiter nichtsdabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straßeund freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein,welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich so gar fröhlichin die Händchen patschte, riefen: Noch mehr! Ich säumte nicht, sogleicheinen Topf und auf immer fortwährendes Rufen: Noch mehr!nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegendas Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifallzu bezeigen und ich war höchlich froh ihnen Vergnügen zumachen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer:Noch mehr! Ich eilte daher stracks in die Küche und holte dieirdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen ein noch lustigeresSchauspiel gaben; und so lief ich hin und wieder, brachte einenTeller nach dem anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihenach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben,so stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, ingleiches Verderben. Nur später erschien jemand zu hindern und zuwehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrocheneTöpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich

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