Eine
Begebenheit aus unserer Zeit
von
J. Thenen,
Verfasser des »Wunderrabbi«.
Der Ertrag ist der allgemeinen Poliklinik in Wien gewidmet.
Wien.
Verlag von L. Rosner.
1881.
An einem trüben, regnerischen Herbstmorgen schritteine Frau die breite, mit feinem Kiessande bestreuteAllee entlang, die zur Irrenanstalt führte. Die Frauwar groß und schlank und entwickelte in jeder Bewegungeine unnachahmliche Grazie, eine vollendeteSymmetrie der Form. Ihr Haar war von einem hellenBraun, auf dem ein Goldglanz lagerte, nicht andersals ruhe der volle Sonnenschein auf den reichen, wogendenLocken; das Auge, lang geformt, dunkel und feurig,war von bogenförmig feingezeichneten Brauen überwölbtund von langen schwarzen Wimpern verschleiert; durchdie lilienweiße Haut schimmerte die Rose auf den Wangen;der feingeschnittene Mund, die kleinen Perlenzähne unddas anmuthreiche Grübchen am Kinn vervollständigtendas harmonische Ganze. Diese Frauengestalt war wunderbar,entzückend schön.
Ja, Zerline war schön wie die Fee eines Zaubermärchensund ebenso mächtig wie diese. Ein Blick ihresGlutauges, ein Wort von ihren duftigen Lippen vermochtenes eben so leicht wie der Zauberstab einer FeeSchaaren von dienstbaren Geistern um sie zu versammeln.Ihre Alleinherrschaft in der galanten Welt war anerkannt,unbestritten, unumschränkt. Zu den demüthigenZugthieren ihres Siegeswagens zählten die stolzestenLöwen des Tages. Zerline war eine gefeierte Schauspielerin,das brillanteste Decorationsstück eines Musentempelsin der Provinz. Mißgünstige Rivalinnen behauptetenwohl, Zerline sei nur auf der Bühne des Lebens einetreffliche Komödiantin, im Tempel der Kunst nur einejämmerliche Stümperin. Böse Zungen erzählten, daß siedurch mächtige Gönner sich ihren Platz auf den Bretternerrungen und nur durch ihre körperlichen Reize und durchihren Toilettenreichthum das Publicum blende. Allesdies vermochte aber die Triumphe Zerlinens nicht zu vermindern.Die Menge huldigt dem Erfolge, ohne sich zukümmern, auf welche Weise dieser errungen wird.
Zerline war also eine Zugkraft ersten Ranges undwurde als solche vom Leiter des Theaters mit einer beidiesem Herrn nicht gewöhnlichen Liebenswürdigkeit behandelt.Der Director war ein kluger Mann. Er wußte, daß eineblendende Staffage eine viel mächtigere Zugkraft sei als ein echtes Talent, das sich zur reinen Höhe der wahren Kunstemporgeschwungen. »Das Gute wird gedacht, das Schöneaber betrachtet,« philosophirte er. »Mein Publicum istnicht dem Begriffe, sondern der Anschauung zugänglich,und die Kunst eines praktischen Directors besteht ja nurdarin, dem Publicum den gewünschten Genuß zu verschaffenund ausverkaufte Häuser zu erzielen.« Zerlinefeierte Triumphe, wie die wirklichen Künstlerinnen solchenicht oft und nicht leicht erringen. Milde Kritiker räuchertensie in dicke Weihrauchwolken ein und nannten sie einenleuchtenden Stern am Firmamente der tragischen Kunst.Dies, sollte man meinen, müßte sie doch befriedigthaben. Dem war aber nicht so. Mit dem Erfolge wuchsihr Ehrgeiz. Bald verlor die Huldigung der gutmüthigenProvinzler für Zerline jeglichen Reiz. Der Wirkungskreisin der Provinz erschien ihr eng und armselig und nurdie Bühne in der Residenz ihrer würdig. In der Residenzals Tragödin g