Erzählung
Johanna Spyri
Wenn man den Seelisberg von der Rückseite her besteigt, kommt man aufeine frische, grüne Wiese. Man bekommt fast Lust, sich dort unter diefriedlich weidenden Tiere zu mischen und auch einmal ein wenig von demschönen, weichen Gras zu kosten. Die sauberen, wohlgenährten Küheziehen lieblich läutend immer hin und her. Denn jede trägt am Halsihre Glocke, damit man immer hört, wo sie ist. So kann sich keine Kuhunbemerkt dorthin verlaufen, wo die von Sträuchern bedeckte Felswandliegt, über die sie hinunterstürzen könnte. Es ist außerdem einganzes Rudel Buben dort, die schon acht geben können. Aber dieGlocken sind doch notwendig und tönen so freundlich hin und her, daßkeiner sie entbehren möchte. Am Bergabhang stehen hie und davereinzelt die kleinen, hölzernen Häuser, und nicht selten rauschtdaneben ein schäumender Bach ins Tal hinab. ‘Am Berghang’ heißt eshier oben und mit Recht, denn nicht eines der Häuschen steht aufebenem Boden. Es ist, als wären sie irgendwie an den Berg hingeworfenworden und da hängengeblieben. Man begreift gar nicht, wie sie daoben an den Hang hingebaut werden konnten. Vom Weg unten sehen siealle gleich nett und freundlich aus mit den offenen Galerien und derkleinen, hölzernen Treppe am Haus. Steigt man aber hinauf und kommtin ihre Nähe, so sieht man, daß ein großer Unterschied zwischen ihnenist. Gleich die zwei ersten am Hang sehen in der Nähe ganzverschieden aus. Sie stehen nicht weit voneinander, und zwischenihnen stürzt der größte Bergbach der Gegend, der schäumendeSchwemmebach, hinunter.
Am ersten Häuschen blieben auch an den schönsten Sommertagen alle diekleinen Fenster immer fest geschlossen, und die einzige Luft, diehineindrang, kam durch die Löcher der zerbrochenen Scheiben. Das waraber nicht viel, denn die Löcher waren wieder mit Papier verklebt,damit man im Winter drinnen nicht frieren mußte. An dem hölzernenTreppchen waren die Stufen alle halb abgebrochen. Und die Galerie warso zerfallen, daß es ein Wunder war, daß alle die kleinen Kinder, dieda herumrutschten und stolperten, nicht Arme und Beine brachen. Siehatten jedoch alle gesunde Glieder, aber recht unsaubere. Die Kinderwaren alle mit Schmutz überdeckt, und ihre Haare hatten noch nie einenKamm gesehen. Vier dieser kleinen Schlingel krochen den Tag über daherum, und am Abend kamen vier größere Kinder dazu. Drei kräftigeBuben und ein Mädchen, die auch nicht besonders sauber und ordentlichaussahen, aber doch ein wenig besser als die Kleinen. Denn siekonnten sich doch schon selbst waschen.
Das Häuschen über dem Bach drüben hatte einen ganz anderen Charakter.Da sah es schon unten vor der kleinen Treppe so sauber und aufgeräumtaus, als sei der Erdboden ein ganz anderer als dort drüben. DieStufen sahen immer so aus, als wären sie eben gescheuert worden. Undoben auf der Galerie standen drei schöne Nelkenstöcke und dufteten denganzen Sommer lang ins Fenster hinein. Eines von den kleinen, hellenFenstern stand offen und ließ die schöne, sonnige Bergluft herein.Dort konnte man meistens eine noch kräftig aussehende Frau sitzensehen, mit schönem, weißem Haar, das sie sehr ordentlich unter dasschwarze Häubchen zurückgestrichen hatte. Sie flickte gewöhnlich aneinem Männerhemd aus grobem, festem Stoff, das aber immer saubergewaschen war. Die Frau selbst sah auch in ihrem einfachen Gewand soadrett und reinlich aus, als wäre noch nie etwas Unsauberes an sieherangekommen. Es war Frau Vizenze, die Mutter des jungen Sennen, desfröhlichen Franz Anton mit den kräftigen Armen. Der machte den Sommerüber in der obe