Bernard Shaw
Roman
Gustav Kiepenheuer Verlag
Potsdam 1921
Aus dem Englischen übersetzt
von
Wilhelm Cremer
Autorisierte Ausgabe
Druck der Buchdruckerei Gustav Ascher G. m. b. H., Berlin SW 61
In der Dämmerung eines Oktoberabends trat einenervös aussehende Frau von etwa vierzig Jahren durcheine Eichenholztür auf einen breiten Flur, der sichim ersten Stockwerk eines alten englischen Landhausesbefand. Eine Haarlocke war über ihre Stirne gefallen,als ob sie tiefgebückt beim Lesen oder Schreiben gesessenhätte, und sie stand jetzt einen Augenblick still, um siezurückzustreichen, und starrte nachdenklich — aber durchausnicht träumerisch — durch das hohe, schmale Fenster.Von der Pracht des Sonnenuntergangs konnte sienichts sehen, denn dieses Fenster ging nach Osten zu,wo die Landschaft mit ihren Schaftriften und Weidegründenlangsam in dem trüben, grauen Dunkelversank.
Die Dame blieb eine Zeitlang unschlüssig auf demFlur stehen, wie jemand, der nur selten Ruhe undFrieden genießen kann. Dann ging sie auf eine andereTür zu, auf der in weißen Buchstaben „KlassenzimmerNr. 6“ geschrieben stand. An der Schwellemachte sie aber wieder halt, da sie im oberen Stockwerkeine flüsternde Stimme hörte, und blickte vorsichtigan dem breiten, runden Geländer hinauf, dasin einer ununterbrochenen Kurve und in gleichmäßigerNeigung durch alle Stockwerke des Hauses lief.
[S. 2]Eine jugendliche Stimme, die offenbar jemandnachäffte, erscholl jetzt von oben. „Bitte, meine Damen,wir gehen nunmehr zu den Etudes de la vélocitéüber.“
In demselben Augenblick schoß ein Mädchen ineinem Leinenkleid an dem Geländer herunter. Siewirbelte in furchtlosem Schwung um die Kurve undverschwand unten in der Dunkelheit. Ein stattlichesMädchen in Grün, das beim Abwärtsgleiten ängstlichden Atem anhielt, folgte ihr, und dann kam eine schonfast erwachsene Dame in Schwarz, die mit den Zähnenauf ihre Unterlippe biß und entsetzt ihre schönen braunenAugen aufriß. Ihr Flug erregte einen Miniatursturmwind,der die Haare der Dame auf dem Flurvon neuem in Unordnung brachte. In atemloser Aufregungwartete sie, bis ein zweimaliges leichtes Aufspringenund ein schwereres Hinplumpsen des großenMädchens ihr zeigten, daß die Luftschifferinnen glücklichim Hausflur gelandet waren.
„Himmel!“ rief die Stimme, die auch vorhin gesprochenhatte. „Da ist Susanna.“
„Sie können Gott danken, daß Sie nicht den Halsgebrochen haben,“ entgegnete eine aufgeregte Stimme.„Diesmal erzähl ich es Miß Wylie! Wirklich, ich tues. Und Sie, Miß Carpenter: ich wundere mich, daßSie bei Ihrem Alter und Ihrer Größe nicht mehrVernunft haben! Miß Wilson muß Sie ja hören,wenn Sie so aufplumpsen. Das ganze Haus zittert.“
„Ach, Unsinn!“ sagte Miß Wylie. „Die LadyAbbeß hütet sich, uns jedes Geräusch zu verbieten.Jetzt wollen wir —“
[S. 3]„Mädchen,“ sagte die Dame oben mit ruhiger, aberunheilvoll fester Stimme.
Schweigen und äußerste Bestürzung folgten. Dannantwortete Miß Wylie in honigsüßem Tone. „RiefenSie uns, liebe Miß Wilson?“
„Ja. Bitte, kommen Sie alle drei herauf.“
Sie zauderten eine Weile, da jede der andern denVort