LITERARISCHE BILDNISSE
AUS DEM
NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERT
VON
Georg Brandes.
VIERTE, VON NEUEM DURCHGESEHENE UND VERMEHRTEAUFLAGE.
MIT EINEM GRUPPENBILD.
FRANKFURT A/M.
LITERARISCHE ANSTALT
Rütten & Loening
1901.
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten.
Es ist bekannt, wie zu Anfang dieses Jahrhundertsmehrere hervorragende Dänen das Bürgerrechtin der deutschen Litteratur zu erwerbengesucht haben. Seitdem ist der Versuch von keinem dänischenSchriftsteller mehr wiederholt worden. Ganz zugeschweigen von der politischen Spannung zwischenDeutschland und Dänemark, sind jene Beispiele theilsnicht verlockend, theils nicht massgebend gewesen. Dergrosse Neugestalter der dänischen Sprache, Oehlenschläger,legte dem deutschen Publikum seine Arbeitenin einem Deutsch vor, das so völlig allen Reizes entbehrte,dass er es hier zu Lande nur zu dem Anseheneines Dichters dritten Ranges brachte. Die Erfolge aber,welche geringere Geister, die Baggesen und Steffens errangen,waren bei dem Einen durch eine wahre Chamäleonsnaturund ein in seiner Art einziges Sprachtalent,bei dem Zweiten durch die vollständige Lostrennung vonder Muttersprache bedingt.
Der Verfasser dieses Buches, der durchaus kein Chamäleonist und seine Muttersprache keineswegs aufgegebenhat, vielmehr mitten in der litterarischen Bewegungsteht, welche die nordischen Länder seit einiger Zeiterfasst hat, weiss recht wohl, dass der Mensch nur dawo er geboren, wo er durch und für die Verhältnisse[iv]gebildet ist, erheblichen Einfluss ausüben kann. Er hatauch nicht den Ehrgeiz, ein deutscher Schriftsteller imeigentlichen Sinne sein zu wollen. In dem vorliegendenBuch, wie in anderen Schriften, ist seine Absicht einfachdie gewesen, in deutscher Sprache für Europa zu schreiben,d. h. seine Stoffe anders zu behandeln als er es für einbloss skandinavisches Publikum thun würde. Er verdanktder Poesie, der Philosophie und der systematischenAesthetik Deutschlands unendlich viel, da er sich aberspeciell als Kritiker nicht als Schüler der deutschen Litteraturhistoriefühlt, so gibt er sich der Hoffnung hin,einen wenn auch kleinen Theil seiner Schuld an Deutschlandabtragen zu können.
Die Aufsätze, aus welchen dieser Band besteht undvon denen auch die bereits früher in Zeitschriften veröffen