Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt.Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet.Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so markiert.
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sicham Ende des Buches.
Novelle
von
Rudolf Herzog
Stuttgart und Berlin 1922
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
51.–60. Tausend
Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten
Copyright 1911 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger Stuttgart
J. C. Heer
zu eigen
Da lag die alte, liebe Stadt zuFüßen. – Da krochen die alten,lieben Gassen wie ehedem denBerg hinan, wie heimliche Liebhaberauf gewundenen Pfaden,und umkreisten das Landgrafenschloß, das sechsJahrhunderte und mehr ihnen zuwinkte unddoch nur schöner geworden war.
Da breitete sich die stille, grüne Ebene weithinaus, so weit, wie man Gedanken sendenkann, bis zu der Hügelkette, die den Horizonterklomm, die Äste ihres Waldgebietes ausspannteund den ziellos schweifenden Gedankenzurief: Bleibt hier – nutzet den Tag! …
Und aus der Ebene lachte das sonnenglitzerndeGewässer der Lahn, und ein Frühlingswind,[10]der nicht mehr als ein Streicheln war, trugspielerisch die Blütenblätter der Obstbäume mitsich und streute sie über den Fluß. Da war's,als ob auch die alte Lahn im Brautgewandeschimmerte und verstohlen nach dem Bräutigamhinaufblinzelte, der alten Stadt Marburg, ausderen Höfen und Gärten blühendes Strauchwerkhervorsproß wie Blumensträuße am Hochzeiterrock.
Und Stadt und Schloß, Flußtal und Berghänge,die sich seit Jahrhunderten schon ihreLiebe kund taten, waren nicht älter und warennur schöner geworden.
»Wie ist das möglich …?« fragte sich derMann am Fenster, »wie ist das möglich?Sechs Semester hab' ich hier einmal durchtobtund später geglaubt, alles das wäre nur mitden leicht entzündbaren jugendlichen Sinnenaufgenommen worden. Und nun ist das allesso geblieben und blüht noch stärker und setztsich über Zeit und Alter hinweg. Und auch –über mich. Und lacht über meinen Professorentitel[11]und über meinen Lebensernst … Oderist es nur ein wenig Spott, weil ich mich hier– mit Farben schmücke – von denen meineSeele – nichts mehr weiß?«
Ein gespannter Zug trat in sein Gesicht. Alswäre ein Gedanke in ihm aufgetaucht, den ersich mühte bis zu seinem Ausgangspunkt zuverfolgen. Und die Spannung löste sich in eineVersonnenheit, und die Versonnenheit wurdezu einem Lächeln, das sich heimlich aufmachteund suche