Von
Ida Gräfin Hahn-Hahn.
Eine Weihnachtsgabe.
Berlin.
Verlag von Alexander Duncker,
Königl. Hofbuchhändler.
1843.
Allen Müttern.
Nachdem ich halb Europa von Gibraltar bis Danemoradurchstreift habe, reiste ich in diesem Spätsommernach der Schweiz, nicht sowol um das Land, alshauptsächlich um liebe Freunde wiederzusehen. Dochkaum hatte ich den Jura überschritten, als das Landselbst, diese großartige, mächtige, reiche Natur, ihrenalten unzerstörbaren Zauber über mich übten, so daßmir die Schweiz schöner erschien, als irgend ein Land,das ich je gesehen. Der Eine mag Tyrol vorziehen,der Andere die Pyrenäen; dennoch glaube ich, daß Alleeingestehen werden: eine solche Vereinigung aller Contraste,aller Bedingungen zu einem vielseitigen Lebenfindet man dort nicht; findet nicht so viel Städte sonah beisammen und in so eigenthümlichem Characterausgeprägt; nicht so viel Punkte auf denen man allenComfort der Civilisation neben allen Schönheiten derNatur genießt. Wer sich für den Gewerbfleiß und dieindustrielle Thätigkeit interessirt, gehe nach dem hellenZürch, dem ernsthaften Basel, dem eleganten Genf; werfür die Cultur des Bodens, nach dem Canton Bern,der ein üppiger Garten ist, oder an den Leman, dessennördliches Ufer, der Höhenzug des nackten, felsigenJorat, durch unglaubliche Mühe in ein Rebgeländeverwandelt ist. Wen das rastlose Ringen und Treibender Civilisation, die keine Ruhe kennt, ermattet, der gehein die milden Felsenthale des Canton Uri oder zu dengrünen Wiesen von Unterwalden, oder in das stilleSchwytz. Wer die Fremden, die Reisenden beobachtenund sich mit ihnen unterhalten und zerstreuen will, suchedie Orte auf, wo sie sich vorzugsweise drängen: Luzern,Thun, Interlachen, den Genfer See. Wer die Geschichteliebt, kann durch die Schweiz wandelnd einen lehrreichenCursus über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeitmenschlicher Institutionen machen, bei Realta inGraubündten beginnend, und wenn ihm die gegenwärtigennicht gefallen, so kann er aus jener Betrachtungden Trost schöpfen, daß auch sie nicht dauern werden:die Römermacht ist verschwunden, die Obergewalt desdeutschen Kaisers gebrochen, die Aristokratie gestürzt;– die moderne Demokratie wird auch fallen. Weram materiellen Wohlbehagen seine Freude hat, etabliresich in irgend einem guten Gasthof, der in der Schweizeben so leicht, als in Deutschland schwer zu finden ist,und er wird haben, was der Leib nur begehrt. Erwird auch nicht durch den Anblick fremden Elends ausseinem Behagen aufgescheucht werden, z. B. nicht inGenf, wo die Armenanstalten so vortrefflich sind, daßes keine Bettler giebt. So haben Sachkundige