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Von
Jizchok Lejb Perez
Aus dem Jidischen
übertragen von
Alexander Eliasberg
Im Insel-Verlag / Leipzig
An einem Frühlingstage, einem richtigen warmen Pessachtage,gehen Reb Schachno, ein langer, magerer Jude, der letzteÜberrest der alten Kozker Chassidim-Gemeinde, und Reb Sorach,ein ebenso magerer, doch kleingewachsener Jude, der letzte lebendeVertreter der alten Belzer(1) Gemeinde, vor der Stadt spazieren.In ihren jüngeren Jahren waren sie Feinde auf Tod und Leben,denn Reb Schachno war der Anführer der Kozker gegen dieBelzer, und Reb Sorach der Anführer der Belzer gegen dieKozker. Doch jetzt, wo sie beide alt geworden sind und dieKozker nicht mehr das sind, was sie früher waren, ebenso wieauch die Belzer ihr früheres Feuer verloren haben, sind sie ausden Parteien ausgetreten und haben die Führerschaft jüngerenLeuten überlassen, die in Glaubenssachen schwächer, sonst aberrüstiger sind als sie.
An einem Wintertage, an der Ofenbank im Bethause habensie Frieden geschlossen, und nun gehen sie am dritten Pessachfeiertagespazieren. Am weiten, blauen Himmel strahlt die Sonne,aus der Erde sprießen überall Halme, und man kann beinahesehen, wie bei jedem Grashalme ein Engel steht und ihn zurEile antreibt. Vögel schießen durch die Luft auf der Suche nachden vorjährigen Nestern. Und Reb Schachno sagt zu Reb Sorach:
»Die Kozker Chassidim, die richtigen Kozker von altem Schrotund Korn – von den heutigen Kozkern spreche ich nicht! – hieltennicht viel von der Haggodo(2) …«
»Doch um so mehr von den Mazzeknödeln!« lächelt Reb Sorach.
»Lache nicht über die Knödel!« antwortet Reb Schachno sehrernst. »Lache nicht! Du kennst doch die geheime Bedeutung desBibelwortes: ›Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn überantworten‹?«
»Mir genügt es,« antwortet Reb Sorach stolz und überlegen,»daß ich die Verzückung des Gebets kenne.«
Reb Schachno tut so, als ob er es nicht gehört hätte, undfährt fort:
»Der offenbare Sinn der Worte ist doch klar: wenn einKnecht, ein Diener, ein Leibeigener seinem Herrn entläuft, darfman ihn, nach dem Gebote der Thora, nicht einfangen; man darfihn nicht binden und seinem Herrn zurückbringen. Denn wennein Mensch entlaufen ist, so konnte er es wohl nicht länger aushalten… Es handelt sich also einfach um die Rettung einerMenschenseele! Und der verborgene Sinn dieser selben Worteist ebenso einfach. Der Menschenleib ist ein Knecht, der Knechtder Seele! Der Leib ist ein Lüstling: sieht er ein Stück Schweinefleisch,oder eine fremde Frau, oder irgendeinen Götzendienst,oder ich weiß nicht was, – so will er aus der Haut fahren. Dochdie Seele wehrt es ihm und spricht: ›Du sollst nicht sündigen!‹und er muß