IMAGO

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD

SCHRIFTLEITUNG:
II. 3. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1913

Das Motiv der Kästchenwahl.

Von SIGM. FREUD.

I.

Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und eine tragische,haben mir kürzlich den Anlaß zu einer kleinen Problemstellungund Lösung gegeben.

Die heitere ist die der Wahl des Freiers zwischen drei Kästchenim »Kaufmann von Venedig«. Die schöne und kluge Porziaist durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den von ihrenBewerbern zum Mann zu nehmen, der von drei ihm vorgelegtenKästchen das richtige wählt. Die drei Kästchen sind von Gold, vonSilber und von Blei; das richtige ist jenes, welches ihr Bildnis einschließt.Zwei Bewerber sind bereits erfolglos abgezogen, sie hattenGold und Silber gewählt. Bassanio, der Dritte, entscheidet sich fürdas Blei; er gewinnt damit die Braut, deren Neigung ihm bereitsvor der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier hatte seineEntscheidung durch eine Rede motiviert, in welcher er das von ihmbevorzugte Metall anpries, während er die beiden anderen herabsetzte.Die schwerste Aufgabe war dabei dem glücklichen drittenFreier zugefallen; was er zur Verherrlichung des Bleis gegen Goldund Silber sagen kann, ist wenig und klingt gezwungen. Stündenwir in der psychoanalytischen Praxis vor solcher Rede, so würdenwir hinter der unbefriedigenden Begründung geheimgehaltene Motivewittern.

Shakespeare hat das Orakel der Kästchenwahl nicht selbsterfunden, er nahm es aus einer Erzählung der »Gesta Romanorum«,in welcher ein Mädchen dieselbe Wahl vornimmt, um den Sohn desKaisers zu gewinnen[1]. Auch hier ist das dritte Metall, das Blei, dasGlückbringende. Es ist nicht schwer zu erraten, daß hier ein altesMotiv vorliegt, welches nach Deutung, Ableitung und Zurückführungverlangt. Eine erste Vermutung, was wohl die Wahlzwischen Gold, Silber und Blei bedeuten möge, findet bald Bestätigungdurch eine Äußerung von E. Stucken[2], der sich in weitausgreifendemZusammenhang mit dem nämlichen Stoff beschäftigt. Ersagt: »Wer die drei Freier Porzias sind, erhellt aus dem, was siewählen: Der Prinz von Marokko wählt den goldenen Kasten: erist die Sonne; der Prinz von Arragon wählt den silbernen Kasten:er ist der Mond; Bassanio wählt den bleiernen Kasten: er ist derSternenknabe.« Zur Unterstützung dieser Deutung zitiert er eineEpisode aus dem estnischen Volksepos Kalewipoeg, in welcher diedrei Freier unverkleidet als Sonnen-, Mond- und Sternenjüngling(»des Polarsterns ältestes Söhnchen«) auftreten und die Brautwiederum dem Dritten zufällt.

So führte also unser kleines Problem auf einen Astralmythus!Nur schade, daß wir mit dieser Aufklärung nicht zu Ende gekommensind. Das Fragen setzt sich weiter fort, denn wir glaubennicht mit manchen Mythenforschern, daß die Mythen vom Himmelherabgelesen worden sind, vielmehr urteilen wir mit O. Rank[3],daß sie auf d

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