Die Geschichte einer Einsamen
von
Marie Diers
Dresden 1907.
Max Seyfert, Verlagsbuchhandlung.
Aus dem Dorfe Hohen-Leucken, das seinenNamen seinem höher gelegenen Herrschaftshause zuEhren, sonst aber nur wie zum Spotte führte, kamder Doktor das ganze Jahr nicht heraus. ZwischenMoor und sumpfigen Wiesen lag es arglos eingebettet,und am Abend, wenn die Nebel stiegen, wogteeine weiße Mauer bis an die Schwellen der niedrigenHäuser. Typhus, Schwindsucht, epidemische Hals- undRachenkrankheiten gehörten hier mit zu dem gewohntenLebensbilde der Leuckener Bewohner, manbegrub hier seine kleinen Kinder, man siechte selber,man starb, ohne sich viel um die Ursachen zu bekümmern,oder gar ihnen den Krieg zu erklären. DerDoktor, der viele Meilen über Land durch Lehmboden,durch Sand, über schwanken Moorgrund herkutschierte,fluchte zwar jedesmal von neuem über denNebelring, der dieses Dorf umzog, aber er war selbstein Kind dieses Landes, in dem man zwar flucht, imübrigen aber alle Unbill ruhig beläßt, wie sie nun einmalist, und ihr höchstens mit einem kräftigen Bittrenzu Leibe geht.
Der baufällige Krug am Anfang des langgestrecktenDorfes wurde die ganzen Abende nicht leer, sogarbei Tage bevölkerten ihn zweifelhafte Gestalten. Das bißchen Bargeld, das sich der Tagelöhner undauch der Kossat errackerte, wenn er zu Hofe ging,wurde hier wieder vertrunken. Es lag so in derfeuchten Luft und dem schlottrigen Gefühl, das manden ganzen Tag in den Knochen hatte. Der Pastorkonnte das nicht verstehen, er hatte ein massives Hausund brauchte den ganzen Tag nicht aus seiner warmenStube heraus. Darin war der gnädige Herr besser,er begriff sehr gut, daß man bisweilen »saufen«müßte, um sich aufrecht zu halten.
Übrigens kam es ihm auch gar nicht darauf an,selbst wenn es sich gerade so machte, mit leuchtendemBeispiel voranzugehen.
Sonst hatte er es gerade nicht nötig, ins Herrenhauskrochen die Nebel nicht herauf. Dies lag aufeinem Hügel, der überdies noch künstlich erhöht war,und war von den Vorfahren dieser Dörfflins, diesicherlich mehr Geld gehabt hatten, als die jetzigen,außerordentlich solide und fest aufgeführt. Ein breiter,chaussierter Fahrweg führte aus dem armseligenDorfe in sanfter, bequemer Steigung bis an das Tor,ein prachtvolles Steinmonument vergangener Jahrhunderte,von dem noch verwitterte Ritter- undEngelfiguren und noch mehr verwitterte fromme undauch trotzige Sprüche die späten Enkel grüßten.
Von hier aus ging es in den steingepflastertenHof und vor die niedrige Einfahrtsrampe.
Was das stolze alte Tor versprach, wurde vondem Schlosse freilich nur recht ungenügend gehalten.Es war ein nüchterner und kahler Bau, an dem nur das Alter interessant war, sonstige Erinnerungen anverklungene Ritterzeiten, die ohne Zweifel vorhandengewesen waren, mußten verschleudert worden odersonstwie zu Grunde gegangen sein. Es ging einetrübe und schändliche Sage um, daß der Großvaterdes jetzigen Herrn v. Dörfflin aus einem zwar erklärlichen,aber wenig ehrwürdigen Grunde einenschwungvollen Handel mit diesen alten, geheiligtenDingen getrieben habe. Aber man redete nicht lautdarüber.
Das Schloß war breit angelegt, dauerhaft, aberhäßlich und unwohnlich. Auf den breiten Treppenzog es beständig, und wer über die unendlichen Bodenräumeging, mußte mitten im Sommer ein Frierenbekommen, wenn er daran dachte, wie es sein müsse,hier zur Winterszeit in den un